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BERLIN, BERLIN, WIR
WAREN IN BERLIN......
Nachricht von:
Christian Worch
Hamburg, den 20. August 2006
BERLIN, BERLIN, WIR WAREN IN BERLIN......
Während der Fußball-Weltmeisterschaft konnte man öfter den Sprechchor
hören: „BERLIN, BERLIN, WIR FAHREN NACH BERLIN....“ Durch die etwas
unglückliche Niederlage gegen Italien hatte sich das dann erledigt.
Aber Weltmeisterschaft ist nur alle vier Jahre einmal. Und
Weltmeisterschaft in Deutschland ist noch seltener. Demonstrationen
finden öfter statt. Auch in Berlin. Deshalb galt für die, die nicht
ohnehin aus der Hauptstadt waren, für den 19. August: BERLIN, BERLIN,
WIR FAHREN NACH BERLIN....
Der Funke sprang über. Der Berliner an sich ist ein humorvoller Mensch.
Der Berliner Polizist an sich ist meist auch Berliner und mithin
humorvoll. Deshalb klebte auf fast allen Mannschaftstransportwagen
(„Wannen“) der Polizei ein dezenter kleiner Aufkleber: „BERLIN,
BERLIN, WIR GEHEN DURCH BERLIN.“
Zweiflern, die Angst hatten, die Demo würde wie manch andere in Berlin
gar nicht erst vom Start loskommen, war damit das Wort abgeschnitten.
Die Aufschrift auf dem Aufkleber war Programm. Daran konnten auch
diverse Straßenblockaden der Linken nichts ändern.
Die erste gab es schon ungefähr zwanzig Meter hinter dem Startpunkt.
Sie wurde nach mehrmaliger Lautsprecherdurchsage von der Polizei mit
„einfachem körperlichen Zwang“ aufgelöst beziehungsweise zur Seite
abgedrängt. Bei „einfachem körperlichen Zwang“ blieb es dann auch.
Außer, daß linke Quellen sich beschweren, es habe wohl auch
polizeilichen Pfeffersprayeinsatz gegeben. Das wird, wenn überhaupt,
die Ausnahme geblieben sein.
Die Zahl losmarschierender Kameraden wird von Polizei und Medien mit 230
angegeben; nach meiner Zählung waren es 247.
Die Gegendemonstranten begleiteten uns teilweise über die ganze
Strecke, einige wohl auch nur ein Stück der Strecke; und wieder andere
begnügten sich damit, sich an den längs der Strecke gelegenen
Infotischen vornehmlich linker Parteien zusammeln und dort ihre Meinung
kundzutun. Meist geschah das durch Trillerpfeifen und ähnliches. Auch
die ständigen „Nazis-raus!“-Rufe erinnerten eher an papageienhaftes
Geplappere. Wenn doch mal ein Gegendemonstrant einen vollständigen Satz
zu rufen imstande war, stieß das bei unseren Demonstranten auf solches
Erstaunen, daß ihm vielfach Sprechchöre antworteten: „ES kann
sprechen?!“
Zweifellos auch das ein Beweis des berühmten Berliner Humors und der
typischen „Berliner Schnauze“.
Die Gesamtzahl an Gegendemonstranten war schwer einzuschätzen; es
werden bestimmt nicht weniger als 500 gewesen sein, wenngleich ich die
in den Medien berichtete Zahl von 1.000 für nach oben aufgerundet
halte; wahrscheinlich lag es irgendwo dazwischen. Sie blieben überwiegend
friedlich. Ein par Händevoll Himbeeren wurden geworfen, und statt
politischer Themen erörterten die betroffenen Demonstranten dann
zeitweilig Fragen wie die, ob sich so etwas wieder aus der Kleidung
herauswaschen ließe.... Hier waren eindeutig die, die autonomes Schwarz
trugen, im Vorteil gegenüber den Trägern heller Sommerkleidung.
Die immer wieder auftretenden, meist eher kurzzeitigen Blockaden der
Wegstrecke wurden vor allem von den Rauchern begrüßt, denn während
des Marsches herrschte zwar das übliche Rauchverbot, aber für
Marschpausen (auch erzwungener Natur) galt es nicht.
Was mich persönlich erstaunte, war: Es gab zwar an mehreren Stellen
Blockaden beziehungsweise zeitweilige Blockadeversuche, aber es waren
meist nur kleine Gruppen von wohl bestenfalls fünfzig Leuten. Warum die
die Wegstrecke links und rechts beleitenden oder weiter vorn wartenden
Antifas sich diesen Blockaden nicht anschlossen, erscheint mir rätselhaft.
Berliner Kameraden, die mit den örtlichen Verhältnissen vertraut sind,
meinten, daß es teilweise an den Animositäten der Linken untereinander
gelegen hätte. Da waren Antideutsche und Antiimperialisten, und weil
die Antideutschen gleichzeitig Pro-Israel sind, stehen sie mit den
Antiimperialisten und klassischen Autonomen natürlich ein wenig auf
Kriegsfuß. Auch die Vertreter linker Parteien sind zwar alle gegen uns,
aber sich untereinander auch nicht so grün: Schließlich konkurrieren
Linkspartei.PDS, WASG und DIE GRÜNEN um Wählerstimmen. Die
Zersplitterung der Linken war insofern logisch und hatte für uns
beziehungsweise für die Polizei eindeutig taktische Vorzüge.
Somit konnte also die ganze, etwa sechs Kilometer lange Strecke durch
den Bezirk Mitte bis zum Bahnhof Bornholmer Straße bewältigt werden.
Wegen Hitze und des nur teilweise durch leichte Bewölkung gemilderten
prallen Sonnenscheins für den einen oder anderen ein wenig anstrengend.
Aber die Demonstrationsleitung hatte vorsorglich genug Trinkwasser
bereitgestellt, so daß es nicht zu Versorgungsengpässen oder anderen
Schwierigkeiten kam.
Andere Demonstrationen am 19. August 2006:
In Jena und München fanden angemeldete Demonstrationen statt, die in
Jena nach Medienberichten mit ca. 350 Teilnehmern, die in München mit
ca. 120 Teilnehmern. Auch dort gab es jeweils Gegendemonstrationen. Die
Gesamtzahl an Gegendemonstranten soll bundesweit bei 4.800 gelegen
haben. Die Gesamtzahl an Demonstranten unseren politischen Lagers war
mit rund 800 deutlich geringer als im Vorjahr. Zu den Teilnehmern der
angemeldeten Versammlungen müssen auch die vielleicht 80 Teilnehmer
eines spontanen Rudolf-Hess-Marsches in Lauenburg an der Elbe gezählt
werden. Diese Demonstration blieb von der Polizei offenbar mangels
Einsatzkräften unbehelligt.
Vereinzelt sollen wohl auch Aktivisten des politischen Rechten Lagers in
Wunsiedel aufgetreten sein; es ist die Rede davon, daß zehn Personen
festgenommen wurden.
Abgesagte Veranstaltungen:
Obwohl die Organisatoren sich vorher die Mühe gemacht hatten, gegen behördliche
Verbote vor den Verwaltungsgerichten vorzugehen, wurden die
Demonstrationen in Altenburg und Fulda kurzfristig abgesagt.
Was Altenburg betrifft, so verwundert das nicht weiter, liegt die
Skat-Stadt doch nur runde 40 Kilometer von Jena entfernt im gleichen
Bundesland. An beiden Orten zeitlich zu demonstrieren wäre bei den
derzeitigen Mobilisierungsmöglichkeiten nicht sehr sinnvoll gewesen.
Die Gründe für die Absage der vorher mindestens im Internet massiv
beworbenen Demonstration in Fulda sind mir zur Zeit nicht bekannt. Es
ist im Gespräch, daß die Stadt nach ihrer Niederlage vor den
Verwaltungsgerichten Auflagen erlassen hat, die die Kameraden zwar
unannehmbar fanden, aber wegen der Kürze der verbleibenden Zeit nicht
mehr gerichtlich anfechten konnten.
Ebenfalls kurzfristig abgesagt wurde eine im dänischen Kolding
vorgesehene Demonstration, die wegen der liberaleren dänischen Gesetze
sogar tatsächlich zum Thema Rudolf Hess hätte stattfinden dürfen. Als
Absagegrund wurde hier genannt, daß sich im Vorfeld mangelhaftes
Interesse von Teilnehmern ergeben und daher die Durchführung nicht
gelohnt hätte.
Ein Fazit:
Im letzten Jahr sind viele davon ausgegangen, daß das geradezu schon
traditionelle Verbot der Wunsiedel-Demonstration keinen Bestand behalten
und letztlich vom Verfassungsgericht aufgehoben werden würde.
Entsprechend viele Reisegruppen hatten sich im Vorfeld zusammengefunden
und beispielsweise Busse angemietet. Also blieb eine hohe
Mobilisierbarkeit aufrecht erhalten, auch wenn es sich nicht um die
original vorgesehene Kundgebung gehandelt hat, sondern um Proteste gegen
deren Verbot beziehungsweise um die Forderung nach Abschaffung des neuen
Volksverhetzungsparagraphen. Folglich waren 2005 über 2.000
Demonstranten an ihren verschiedenen Einsatzorten.
In diesem Jahr herrschte eher die Erwartungshaltung vor, das
Verfassungsgericht werde erneut den Erlaß einer Einstweiligen Anordnung
verweigern. Die Zahl der Demonstranten reduzierte sich damit auf
deutlich weniger als die Hälfte, eher eni Drittel, nämlich rund 800.
Um einen Vergleich zu bieten: Für eine Kampagne gegen den neuen
Volksverhetzugns-Paragrahen, die keinen zeitlichen Bezug zum Todestag
von Rudolf Hess hatte und zudem bei ungünstigerer Witterung stattfand,
traten Ende Januar 2006 unter Federführung von Autonomen Nationalisten
auch rund 700 bis knapp 800 Demonstranten an; nämlich in Stuttgart und
Dortmund jeweils über 300 und in Lüneburg 130. Und auch damals konnte
die Rechtssicherheit gegen die Verbote erst am Tag vor dem Ereignis
hergestellt werden.
Damit zeigt sich eine eindeutige Tendenz: Für Massenereignisse, deren
Durchführung als mindestens relativ sicher und vor allem auch bequem
gelten darf, läßt sich eine steigende Teilnehmerzahl mobilisieren.
Wenn an der „Juristischen Front“ Unsicherheiten herrschen, möglicherweise
bis zum Abend vorher, oder wenn die Durchführung beziehungsweise
Teilnahme stressig zu werden droht, vermindert die Zahl sich. Kurz
gesagt: Die Zahl Demonstrationswilliger allgemein ist gestiegen. Die
Zahl des „Harten Kerns“, der entschiedenen Kräfte, die auch
kurzfristig und ohne Erfolgsgarantie oder einen „Spaßfaktor“ auf
die Straße zu bekommen sind, ist bestenfalls gleichbleibend,
schlimmstenfalls leicht rückläufig.
An mangelndem politischen Bewußtsein kann das eigentlich nicht liegen
– in der Hinsicht hat sich bei uns in den letzten Jahren weder positiv
noch negativ sonderlich viel getan.
Ich neige daher eher dazu, es für eine Folge der allgemeinen
gesellschaftlichen Entwicklung zu halten. Einer Entwicklung, die immer
mehr hin zu Bequemlichkeiten, zu Egoismen, zu mangelndem
Gemeinschaftssinn und zur Betonung des Eigensinns führt.
Daß gerade der radikale bis militante Teil der Linken einen ähnlichen
Entwicklungsprozeß durchmacht und an politischer Stoßkraft verliert,
kann für uns nur ein geringer Trost sein.
Wir haben ein Defizit an Qualität und Mobilisierung; das müssen wir
erkennen und nach Möglichkeit überwinden.
Hamburg, den 20. August 2006
Christian Worch
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