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Krawall in Leipzig, 3. Okt. 2006

Nachricht von:
Christian Worch


Hamburg, den 5. Oktober 2006


KRAWALL IN LEIPZIG


„In Leipzig steht man nur stundenlang im Regen und kommt keinen Schritt voran.“
Unbekannte Stimme; möglicherweise aus dem Kameradenkreis, möglicherweise auch ein anonymer Linker.

Der Mann hatte recht – anfangs. Etwas über zwei Stunden standen wir herum und warteten; und es regnete auch. Erst mal dauerte es rund eine Stunde, bis die benannten Ordner auf „behördliche Zuverlässigkeit“ geprüft waren (Komisch, bei Verkehrskontrollen und so dauert es gerade zwei bis drei Minuten, um per Datenfunk festzustellen, ob jemand polizeilich auffällig ist oder nicht....) Und dann dauerte es noch mal eine Stunde, um ungefähr ein Viertel der 209 Teilnehmer darauf zu überprüfen, ob auch kein einzelner Button und kein eniziges T-Shirt gegen irgendwelche Auflagen verstieß. Als ob das die öffentliche Ordnung der Stadt so schlimm berührt hätte. Was die öffentliche Ordnung berührte, war später zu sehen....

Nachdem der Zug in Gang gesetzt worden war, gab es unter den Teilnehmern Spekulationen, wie weit er diesmal kommen würde. Am Listplatz war eine Demo der Gewerkschaft angemeldet; unsere sollte nur dreißig Meter an ihr vorbeiführen. Das hielt ich für eine mögliche „Sollbruchstelle“, den genau auf dem Platz war die Demonstration vom 1. Oktober 2005 blockiert worden. Auch diesmal war dort eine Demo der Gewerkschaft angemeldet
gewesen. Aber sehr zum späteren Ärger radikaler Linker hatte die Gewerkschaft sie wieder abgemeldt. Denn sie hatte die Auflage bekommen, daß sie nur die Grünfläche neben dem Platz nutzen durfte. Die Gewerkschafter wollten nicht mit dem Füßen auf dem Gras stehen. (Merke: Gewerkschaft ist gegen Graswurzelrevolution. – Daher verlieren die Gewerkschaften auch Mitglieder, während der Nationale Widerstand wächst.....) Da konnte auch eine spontan angemeldete Demo der PDS nicht mehr viel helfen. Die vielleicht drei- oder vierhundert Gegendemonstranten mußten auf dem Bürgersteig bleiben, und der Listplatz konnte passiert werden.

Kurz danach kamen aus einer weiteren Menschenmenge von Gegendemonstranten die ersten Stein- und Flaschenwürde, ungefähr ein Dutzend. Schadenswirkung konnte nicht festgestellt werden.

Mit nur jeweils kurzen, wenige Minuten dauernden Verzögerungen gelanget der Zug bis zur Einmündung Prager Straße, wo es links zum Ostplatz ging und rechts in Richtung Innenstadt. Hier gab es eine weitere Marschpause von ungefähr zehn Minuten, weil die Polizei feindliche Aktivitäten auf beiden Seiten der Prager Straße feststellte und sich erst einmal überlegen mußte, welchen Weg sie denn nun sinnvollerweise wählen sollte. Es wurde der Weg zum für die Zwischenkundgebung angemeldeten Ostplatz, den die Stadt erst hatte verweigern wollen, damit aber vor den Verwaltungsgerichten beider Instanzen gescheitert war.

Auf dem Ostplatz sprachen die Kameradin Ivonne Mädel, der Kamerad Alexander Hohensee und meine Wenigkeit.

Für den Rückweg war die Strecke Prager Straße / Georgiring geplant gewesen, aber dort waren die feindlichen Aktivitäten so massiv, daß die Polizei lieber nicht räumen wollte. Es brannten ein paar Müllcontainer und angeblich auch ein Polizeifahrzeug. Also wählten wir für den Rückweg einen dem Hinweg sehr ähnlichen Weg.

Auf der Hälfte des Rückwegs gab es dann noch einen Zwischenfall, als aus eine Baulücke heraus einige Steine flogen. Einer traf eine Scheibe des Lautsprecherwagens und einer meine Hand. Die Meldung „Worch durch Steinwurf“ verletzt liest sich in der Leipziger Volkszeitung natürlich schön dramatisch, tatsächlich aber war es nichts als eine simple Prellung. Da habe ich im Nahkampftraining Härteres erlebt.... – Weitere Schadenswirkung durch diesen Bewurf konnte nicht festgestellt werden. 

„In Leipzig werden wir doch nur verheizt.“
Unbekannte Stimme; möglicherweise aus dem Kameradenkreis, möglicherweise auch ein anonymer Linker.

Diese unbekannte Stimme hatte allenfalls recht, wenn es tatsächlich kein Kamerad war, sondern ein anonymer Linker. Denn die antifaschistischen Fuß- und Hilfstruppen des real existenten Systems wurden wieder einmal von ihren An- und Wortführern schön verheizt. 130 oder so von ihnen wurden fest- oder in Gewahrsam genommen; wieviele davon sich über eine
Strafanzeige mit anschließendem Verfahren freuen dürfen, ist zur Zeit noch nicht bekannt. Die Gesamtzahl linker Gegendemonstranten (einschließlich der bürgerlichen) wurde mit zwischen 1.500 und bis zu 3.000 angegeben; die erste, niedrigere Zahl wurde am häufigsten in den
Medien genannt und dürfte daher die realistischere sein. Mehrere Müllcontainer und Wertstoffcontainer brannten trotz der feuchten Witterung, und einige polizeiliche Einsatzfahrzeuge wurden beschädigt. Die Stadt Leipzig gibt den durch linke Krawallbrüder entstandenen Sachschaden mit 80.000 EURO an. Um so erstaunlicher, daß eher zögerlich
oder manchmal auch gar nicht gegen diese Leute vorgegangen wird....
Außer vielleicht, daß sie die Statistik der Verletzten anführen. Verletzt wurden nämlich zehn Menschen. Vier davon waren Polizeibeamte; auf unserer Seite gab es nur einen „Verletzten“, nämlich meine Wenigkeit, also werden die restlichen fünf der Gegenseite zuzurechnen sein.

Soweit wir es aus dem Polizeikessel heraus oder durch unauffällige Beobachter vor Ort feststellen konnten, war das Gewaltpotential wohl geringer als am 1. Mai 2006, aber dafür ein wenig höher als am 1. Oktober 2005, wo man sich mit einer „friedlichen“ Kreuzungsblockade
begnügt hatte.

Linke Internetquellen hatten im Vorfeld spekuliert, ob ich diesmal nur eine kurze Route angemeldet hätte (weder zum Völkerschlachtdenkmal raus noch in Richtung Connewitz), um meinen Kameraden „ein Erfolgserlebnis“ zu gönnen. Nein, diese Spekulation ist falsch. Es lag eher daran, daß man sich nicht berechenbar machen sollte. Und die, die zu Leipzig-Demonstrationen kommen, sind trotz der Unkenrufe aus mindestestens teilweise dem eigenen Lager politisch gefestigt genug, um nicht „Erfolgserlebnisse“ zu brauchen, sondern um politische Notwendigkeiten zu erkennen, zu bejahen und sich daran aktiv zu beteiligen. Andere, die lieber zuhause bleiben, weil der Wetterbericht Regen ankündigt oder weil ihnen Leipzig wahlweise zu stressig oder zu langweilig ist, werden auch durch „Erfolgserlebnisse“ nicht zu motivieren sein.

Leipziger Medien stellten einmal mehr fest, daß wir nunmehr binnen fünf Jahren sechzehnmal in der Heldenstadt der ehemaligen DDR demonstriert haben. Und ihnen ist bewußt geworden, daß es kein Ende nimmt, solange unser Demonstrationsrecht nicht auch in Leipzig genauso durchgesetzt ist wie an anderen Orten, wo es weniger militanten Widerstand und weniger Repression seitens der Behörden gibt.

Da ist halt noch eine Mauer in den Köpfen. Das war ja auch das Thema der Demonstration: „Weg mit der Mauer in den Köpfen!“ – Möglicherweise ist die Mauer in den Köpfen schwerer zu überwinden als die mit militärischer Gewalt bewachte Mauer zwischen der ehemaligen DDR und der Alt-BRD. Aber letztlich wird uns auch das gelingen.

Christian Worch


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